Den Vorurteilen
ins Gesicht schauen
Bedrohliche Masse, skandalträchtiges Einzelschicksal: Fotos von Geflüchteten sind oft stereotyp. Eine Berliner Ausstellung sucht nach Kommunikation in Bildern.
Von Priya Basil
28. November 2016, 20:10
Das Auge des Orkans ist der Ort, an dem ein Wirbelsturm zur Ruhe kommt. So fühlt sich Heike Steinwegs Fotoserie Ich habe mich nicht verabschiedet. Frauen im Exil an, die jetzt in Berlin ausgestellt wird. Fünfzehn Gesichter, die Stärke ausstrahlen. Fünfzehn Frauen, fünfzehn Augenpaare – eine tiefe Atempause im Mediensturm, der schon das Wort "Flüchtling" mit drohendem Unheil auflädt.
"Die Jagd nach möglichst dramatischen Bildern treibt das fotografische Gewerbe an, und gehört zur Normalität einer Kultur, in der der Schock selbst zu einem maßgeblichen Konsumanreiz und einer bedeutenden ökonomischen Ressource geworden ist." Was Susan Sontag vor 40 Jahren beobachtet hat, ist heute gültiger denn je. Von überall her kommen Bilder auf uns zu, die meisten von ihnen belanglos oder abscheulich. Wie lässt sich ein Foto machen, das etwas anderes sagt, etwas Bedeutsames und Bleibendes?
Vor diese Herausforderung sah sich Heike Steinweg gestellt, als sie im Herbst 2015 beschloss, den Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind, ein Fotoprojekt zu widmen. Monatelang war sie damit beschäftigt, die richtige Herangehensweise zu finden. Sie untersuchte, wie geflohene Menschen früher und heute dargestellt wurden, wobei ihr auffiel, dass meistens Gruppen junger Männer zu sehen sind. Tatsächlich kamen laut den Statistiken im vergangenen Jahr mehr Männer als Frauen nach Europa, doch die überwältigend einseitig-männliche Darstellung in letzter Zeit entspricht nicht der Realität.
Werden geflohene Menschen einzeln abgebildet, sind sie meist unterwegs, eine Decke in den Händen oder mit anderen sichtbaren Merkmalen einer beschwerlichen Reise. Eine solch exemplarische Zeichnung lässt Individuen zu einem Typus verschwimmen, zum Klischee eines Flüchtlings. Ab und zu bekommt das Bild eines Einzelnen symbolischen Wert, weil es etwas Skandalöses darstellt. Daher erinnern wir uns alle an Alan Kurdi, der an einem griechischen Strand lag, oder den blutüberströmten kleinen Jungen in einem Krankenwagen in Aleppo. Bilder wie diese bieten eine Abkürzung zu einer Idee oder einem Moment, erweitern jedoch nicht unbedingt unser Verständnis. Möglicherweise gibt es eine natürliche Grenze unserer Fähigkeit, bestimmte Formen von Gewalt und Grausamkeit zu erfassen, die weder Bilder noch Worte wirklich überwinden können. Problematisch wird es, wenn ein Ausschnitt das Ganze nur deswegen repräsentiert, weil er in der Arena heutiger Berichterstattung am meisten Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Heutzutage muss sich die Fotografie – vielleicht mehr als jede andere Kunstform – sehr anstrengen, um unser Interesse nicht zu verlieren. Das gelingt mitunter am einfachsten, indem man sich gegen den Wind stellt: Wenn geflohene Menschen wie selbstverständlich als hilflose Opfer oder potenzielle Gefahr dargestellt werden, zeigt man doch besser die Fotografie einer Einzelperson.
"Ein Porträt", sagte der amerikanische Fotograf Edward Weston, "entsteht nicht in der Kamera, sondern davor und dahinter." Für ein Porträt braucht es eine Partnerschaft, die Sekunden, Stunden, Tage oder Jahrzehnte dauern kann. Welcher Zeitrahmen auch immer – etwas wird gegeben, etwas genommen, und das Foto ist die Summe davon. Ich habe mich nicht verabschiedet. Frauen im Exil ist das Protokoll eines intensiven Austauschs. Vor dem Fotoshooting traf Heike Steinweg zunächst jede der Frauen ihrer Serie, um sich mit ihr zu unterhalten. "Sie sollten sich so zeigen, wie sie es wollten, sie sollten entscheiden, was sie anziehen, wie sie das Haar tragen, ob sie sich schminken oder nicht", sagt sie.
"[Heike] ist mit meinem Wunsch einverstanden, dass ich mein palästinensisches Gewand trage. Ich mache mir die Haare zurecht und übe vor dem Spiegel, meine Lippen zu einem Lächeln zu formen", sagte eine der Frauen.
Seit Langem lotet Steinweg in ihren Arbeiten die Verbindungen von Berlin zur Welt aus, weist auf überlappende Geschichten und verschlungene Schicksale hin. Im Mittelpunkt ihres Projekts Open History standen Israelis, die in Berlin leben, und Deutsche, die in Israel leben. Für eine andere Serie, The Last Line, richtete sie ihren Fokus auf Autoren aus aller Welt, die eine Zeit lang in Berlin gelebt und gearbeitet haben. Auch diese Porträts heben den Einzelnen aus dem großen Ganzen heraus – den Machenschaften der Politik, nationalen Erzählungen, geopolitischen Machtspielen – und zeigen einen sehr persönlichen Blick. In Ich habe mich nicht verabschiedet erreicht diese Bevorzugung des Individuellen allein schon deshalb eine völlig andere Dimension, weil der Betrachter so gut wie keine Information über die gezeigte Person erhält. Keinen Nachnamen, kein Alter, kein Herkunftsland. Nur das lebensgroße Porträt einer Frau samt ein paar Zeilen, die sie geschrieben hat. Zeilen wie diese: "Ich nehme nichts als gegeben an, sondern erinnere mich immer daran, dass nichts für immer bleibt."
Das stiftet eine eigentümliche Nähe zwischen abgebildeter Person und Betrachter, die innige Nähe der Fantasie. Man sieht ein Gesicht und versucht, ein Leben zu lesen. Man versteht, dass die eigenen Annahmen richtig sein können – oder komplett falsch. Man versteht, wie unendlich schwer es ist, sich selbst aus dem Bild herauszuhalten, den eigenen geistigen Rahmen zu verlassen – ein Rahmen, der sich durch all die tagtäglichen Bilder geformt hat, die bewusst und unbewusst unsere Wahrnehmung prägen, ein Rahmen, dessen man sich vergewissern muss, will man nicht im medialen Alarmtheater gefangen bleiben.
Vermutlich dürften nur wenige Erfahrungen schlimmer sein als die, eine ganze Existenz zurückzulassen, noch dazu ohne Abschied zu nehmen. Und doch ist momentan genau dies das Schicksal vieler Menschen auf der Welt. Es erscheint daher passend, dass es sich bei dem Titelbild der Ausstellung Ich habe mich nicht verabschiedet um ein anonymes Porträt handelt: das Foto einer Frau, die uns den Rücken zuwendet. Dennoch gehört ihr eines jener fünfzehn Augenpaare, die Ruhe im Sturm signalisieren, weil man spürt, dass ihr Blick wichtig ist, selbst wenn er in eine andere Richtung geht.
"Es kommt nicht auf mein Gesicht an, nicht auf meine Nationalität, nicht auf meine Religion und nicht auf meine Hautfarbe."
Indem sie sich nicht zu erkennen gibt, steht diese Frau für die vielen, die unfreiwillig ins Exil gegangen sind. Ihre Haltung bewahrheitet zudem die Vermutung, dass man nicht unbedingt ein Gesicht sehen muss, um ein Schicksal zu begreifen. So überzeugend diese Rückenansicht ist, die übrigen Bilder wirken zwingender, weil sie die absolute politische Notwendigkeit bestätigen, sein Gesicht zu zeigen.
"Jegliche Fotografie ist eine Beglaubigung von Präsenz", schrieb Roland Barthes. Das gilt für manche Fotos mehr als für andere, und es gilt ganz besonders für die Porträts in Ich habe mich nicht verabschiedet. Indem die Frauen für diese Bilder posieren, nehmen sie für sich in Anspruch, hier zu sein. Ein solches Foto mag auch ein Beispiel für "Natalität" darstellen, die Hannah Arendt als die Fähigkeit zum Neuanfang beschreibt, die Möglichkeit, das Unerwartete zu tun. In ihrem Buch Vita activa schreibt Arendt: "Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, [...] und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt." Die Idee, dass wir unendlich oft neu anfangen können, ist eine befreiende, elektrisierende Aussicht.
"Auf der Überfahrt von Libyen hatten wir vier Tage lang nichts zu essen. Aber es war nicht schlimm, ich habe keinen Hunger gespürt, weil ich Europa vor Augen hatte."
Natürlich gibt es keine Garantie dafür, dass etwas neu Begonnenes gut wird oder glückt. Und doch steckt in jedem Anfang der Schauer eines Versprechens. Wir alle brauchen dieses Versprechen, um weitermachen zu können.
"Als erstes ist mir in Deutschland aufgefallen, wie stark die deutschen Frauen sind. Das gibt mir Kraft und spornt mich an, genauso zu werden."
Ein Klick, und es entsteht eine neue Sichtweise. Es ist so einfach und gleichzeitig so viel komplexer.
Ich habe mich nicht verabschiedet zeigt nur eine Person, die lächelt. Steinweg hat die Frauen nicht dazu ermuntert, weil Lächeln ein Mittel sein kann, andere für sich zu gewinnen oder zu beschwichtigen. Häufig schlüpfen Frauen in die Rolle derjenigen – oder werden in sie gesteckt –, die die Wogen glätten und alles hübsch machen. Die Fotos wirken solchen Erwartungen entgegen. Steinwegs Ziel war ganz einfach, die Frauen in ihrer eigenen Stärke zu zeigen. "Sei einfach die, die du bist", sagte sie ihnen.
Für die Frauen in dieser Fotoserie ist die Frage nach dem Ort, wo sie sich befinden und sich zeigen, schwierig zu beantworten. Nicht zuletzt, weil sie sich den Ort, an dem sie gerade lebten, als sie die Fotografin kennenlernten – ein Flüchtlingsheim oder andere temporäre Unterkünfte – nicht ausgesucht hatten. Ihre Umgebung verriet nichts über die erfolgreiche Schriftstellerin, die Doktorandin, die in Japan studiert hat, die Frauenrechtsaktivistin, die Mutter, deren Tochter einmal ein anderes Leben haben soll, die Frau, die fließend Deutsch spricht, die sich in Deutschland heimisch fühlt und der die Abschiebung nach Ungarn droht. Die Umgebung dieser Frauen hätte nur einen ganz bestimmten Aspekt ihrer Erfahrungen widerspiegeln können: Flucht aus der Heimat und Ankommen im Exil. Eine neutrale Studioszene mit einem schlichten blauschwarzen Hintergrund bietet die Möglichkeit, sie außerhalb eines Kontexts zu zeigen – das heißt außerhalb eines reduzierenden Mainstream-Diskurses über Flüchtlinge – und ihre eigene Präsenz zum wichtigsten Bezugspunkt werden zu lassen.
"Ich habe keine politische Stimme, ich darf weder in Syrien noch in Deutschland wählen."
Beim Betreten des Fotostudios verließen die Frauen kurz das Exil und setzten einen Fuß ins Hoheitsgebiet der Kunst, in den grenzenlosen Raum der Fantasie, der unendlichen Möglichkeit, eine andere Wirklichkeit zu behaupten. Und sie betraten damit auch den Raum des Politischen, der Hannah Arendt zufolge beim gemeinsamen Sprechen und Handeln entsteht. Viele der porträtierten Frauen waren in ihren Heimatländern politisch aktiv und wurden verfolgt. Politik ist ein entscheidender Teil ihrer Persönlichkeit, daher ist es von besonderer Bedeutung, sie als politische Akteurinnen zu würdigen.
"Ich habe so viel in meinem Leben überstanden, dass ich jetzt das Gefühl habe, alles schaffen zu können."
Stärke hat viele Gesichter, und viele ihrer besten Züge sind weiblich. Steht Angesicht zu Angesicht mit ihnen und spürt die Kraft!
Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender
Die Ausstellung "Ich habe mich nicht verabschiedet. Frauen im Exil" von Heike Steinweg ist bis zum 15. Januar 2017 zu sehen in der Galerie im Tempelhof Museum, Berlin.