Bedingungslose Gastfreundschaft,
das wäre doch was
von Joachim Güntner 13.5.2016
Universale Werte wahren, Grenzen überwinden und dem Angstdiskurs über Migranten die ruhige Stimme der Literatur entgegensetzen – darum ging es an zwei Tagen in Berlin.Man sollte von Schriftstellern keine unmittelbar politischen Problemlösungen erwarten. Selbst dann nicht, wenn sie sich zu einer «Europäischen Schriftstellerkonferenz» versammeln, zu deren Initiatoren der deutsche Aussenminister zählt. Das war, trotz Verabschiedung eines Manifestes, auch gar nicht der Anspruch, als sich jetzt in Berlin dreissig Autorinnen und Autoren aus Europa und Ländern des südlichen Mittelmeers mit deutschen Kolleginnen und Kollegen zusammenfanden. «Jenseits von Schlagworten tagesaktueller Debatten, jenseits politischen Kalküls und wirtschaftlicher Notwendigkeiten» wollte man sich über europäische Kultur, ihre Werte und Identitäten austauschen. Dies aber vor einem eminent politischen Hintergrund: der Massenmigration.
Der Zugriff aufs Thema deckt sich mit der Verschiebung ins Kulturelle, die auch die öffentliche Diskussion über Flüchtlinge erfahren hat. Längst geht es auch dort um Identitätsfragen, wie sie an der Konferenz gestellt wurden, etwa: «Wie viel Zuzug verträgt Kultur?» Oder: «Was können europäische Werte noch sein?» Während aber das öffentliche Meinungsklima zunehmend von Überfremdungsängsten geprägt wird, die den Hang zur Abschottung fördern, wollte die Berliner Konferenz die Denkräume – und Herzen – offen halten. Die Zusammenkunft stand unter dem Titel «GrenzenNiederSchreiben», was in bewusst eigenwilliger Orthographie einen Doppelsinn transportierte: Bevor man Grenzen schreibend niederreisst, muss man sie erst einmal notieren.
Einig waren sich die Konferenzteilnehmer, wie gut die Literatur dazu tauge, Grenzen in den Köpfen (denn um die ging es, um Vorurteil und Ressentiment) zu überwinden. Literatur bringe die kulturelle Vielfalt persönlicher Stimmen zum Tragen, und sie ermögliche den teilnahmsvollen Blick auf das Fremde. Denn anders als die auf Aktualität und Erregung getrimmten Medien gehe literarisches Schreiben «die lange Strasse», wie die in Kenya aufgewachsene englische Autorin Priya Basil das Entfalten von Lebensgeschichten und Umständen in Erzählungen nannte. Dieser Modus, pflichtete die Moderatorin bei, bringe Literatur in Gegensatz zum Erzeugen von Hysterie, mit der gegenwärtig die «Angstsuppe» hochgekocht werde.
Einzig der russische Schriftsteller Sergei Lebedew, belehrt durch Erfahrung in seiner Heimat, goss etwas Essig in den Wein. «Wir sprechen hier alle nur gut von der Literatur», merkte er an, es lasse sich aber auch ein schlechter Gebrauch von ihr machen. In Russland würden etwa Tolstoi und Dostojewski herangezogen, um zu begründen, warum man sich vom Westen fernhalten müsse. Beide seien unstrittig literarische Riesen, auf deren Schultern wir ständen. Ihr Antiwestlertum aber mahne, auch gegen Riesen kritisch zu sein.