Von VOLKER BREIDECKER
"Wo ist deutsch?", die Frage der Moderatorin klang beinahe verzweifelt. Mit ihr suchte der nicht des Französischen mächtige Teil des Publikums den Kanal mit der simultanen Übersetzung. Am Mikrofon holte Patrick Chamoiseau, von der Karibikinsel Martinique stammender Schriftsteller und Goncourt-Preisträger, gerade zu seinem Diskussionsbeitrag aus. Ilija Trojanow, der einzige Vertreter der deutschsprachigen Literatur im Saal, jedoch als gebürtiger Bulgare nicht am Fluchtort Deutschland, sondern in Kenia am Indischen Ozean aufgewachsen, gab da den verschmitzten Rat: "Je nach dem, in welche Richtung man das Rädchen dreht, findet man die gesuchte Sprache."
Auf der Suche nach den Möglichkeiten einer neuen Weltliteratur unter globalisierten Bedingungen trafen die Literaturtage von Litprom, der "Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika" in diesem Jahr buchstäblich den Nagel auf den Kopf: Denn wo auf dem Globus oben und wo unten, wo links und rechts, wo hinten und vorne ist, hängt allein davon ab, aus welcher Perspektive man die Erdkugel, betrachtet. Symptomatisch dafür waren die eingeladenen zehn Autoren aus drei Kontinenten der südlichen Hemisphäre. Beinahe alle sind an gleich mehreren Orten dieser Welt weniger beheimatet als vielmehr so heimisch, wie man an es an Orten, die man selbst gewählt hat, überhaupt nur werden kann.
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"Woher kommst du?" Die alte Gretchenfrage, die Fremden in der Fremde stets gestellt wurde, ist heute obsolet geworden. Priya Basil, die Autorin des Romans "Die Logik des Herzens" (2012) wurde in London geboren, wuchs aber in Kenia auf, bevor sie zum Studieren wieder nach England ging. In zweifacher Distanz zu ihren Ursprüngen, die sie, anders als manch anderer, jederzeit wieder aufsuchen und neu besichtigen kann, lebt und schreibt sie heute in Berlin. Weder Hautfarbe noch Sprache, weder Geburtsort noch Religion lassen verbindlich erkennen, "in welchen Regionen" - geografischen, geistigen, kulturellen, seelischen, sexuellen - Menschen heute zu Hause sind. Oder es gerade nicht sind, weil sie sich, ob als Migranten, Flüchtlinge oder auch einfach nur aus Lust und Laune irgendwo unterwegs, vorübergehend oder dauerhaft dort niederlassen, wo sie sich gerade wohl fühlen und wo sie Mensch sein können. Für die Literatur bedeutet dies, dass sie in unermesslicher Dehnung ihres "Sprachkleids" (Chamoiseau) auf der Suche nach einem globalen Alphabet ist, nach einer Utopie in der Dystopie - einer Poetik der chaotischen Welt.