LI 118, Herbst 2017 Zum Inhaltsverzeichnis Heftpreis: 13,90 € inkl. MwSt. 7% Kurzer Auszug aus dem langen Essay STAHL, DER DIE ERDE BEISST Priya Basil Schienenstränge – auf den Spuren des Kolonialismus in Afrika (...) 15. „Afrika ist die letzte Grenze des Kapitalismus“, wie der kamerunische Philosoph und Politologe Achille Mbembe immer wieder betont. „Es ist das letzte Gebiet auf der Erde, das noch nicht ganz und gar der Herrschaft des Kapitals unterworfen ist.“ 16. Der Kapitalismus versucht derzeit nach Kräften alles, die afrikanische Grenze niederzureißen. China investiert Unsummen in den Kontinent und stellt damit die Weichen für eine Zukunft, in der das Reich der Mitte dort fest im Sattel sitzen und Einfluß darauf nehmen wird, wo was hinkommt, zu Lande, zur See und in der Luft. Seit 2000 haben die Chinesen um die 100 Milliarden Dollar an Krediten an Afrika vergeben – genaue Zahlen sind laut der China Africa Research Initiative der Johns Hopkins School of Advanced International Studies schwer zu bekommen, da „die Chinesen sich nicht sehr transparent geben hinsichtlich ihres Kreditflusses nach Übersee“. 17. Etwa ein Viertel der Afrika von Peking gewährten Kredite sind für Eisenbahn- und Straßenprojekte gedacht. Über den ganzen Kontinent hinweg werden neue Schienen verlegt, so etwa zwischen Abuja und Kaduna in Nigeria, den Nil entlang im Sudan, von Tansania nach Sambia, von Äthiopien nach Djibouti. Hier und da schlängeln sich die neuen Gleise entlang der alten Trassen aus der Kolonialzeit. Macht sie das zu Geschwistern im selben Verbrechen? Immerhin erscheinen diesmal die Projekte weniger von Gewalt geprägt, weniger tödlich, sondern legitim und durchaus freundlicher Art. 18. Im ölreichen Angola, wo die Chinesen mehr investiert haben als in jedem anderen afrikanischen Land, hat man das noch unter portugiesischer Herrschaft gebaute Schienennetz renoviert. Kenia ist seit 2015 zu einem der größten Kreditnehmer der Chinesen geworden. Wie in anderen afrikanischen Ländern kommen wenigstens achtzig Prozent der Mittel für die neue SGR aus Peking. Die Auslandsschulden Kenias belaufen sich auf das Siebenfache seines Jahresbudgets; fast sechzig Prozent seiner Kredite kommen aus China. (...) 32. Kenias Präsident Uhuru Kenyatta zufolge gibt die Neue Seidenstraße dem „Kontinent die Gelegenheit zu einem Paradigmenwechsel. Das postkoloniale Afrika bewegt sich schon viel zu lange in ausgefahrenen Geleisen.“ 33. Mit Sicherheit hatte Frantz Fanon nicht an einen Bund mit China gedacht, als er am Schluß seines Buchs Die Verdammten dieser Erde erklärte: „Europa hat endgültig ausgespielt, es muß etwas anderes gefunden werden.“ Aber wie stellte er sich Afrikas Spiel ohne Europa vor? All die Befreiungsbewegungen, das Ringen um Unabhängigkeit, die Bemühungen um Selbstbestimmung – was ist aus dieser Vision, aus dieser Tugend, dieser Hoffnung geworden? Wie kam es, daß die Fairneß bei diesem neuen Spiel so oft auf der Strecke geblieben ist? Immer wieder wurden Führer von Befreiungsbewegungen – Jomo Kenyatta in Kenia, Robert Mugabe in Simbabwe, José Eduardo dos Santos in Angola, um nur ein paar zu nennen – zu Diktatoren, Eigennutz und materielle Gier obsiegten über die Belange des Volks. Sicher, man darf ausländische Interessen nicht vergessen, die ungleiche Globalisierung, aber das allein reicht nicht aus für eine Erklärung dafür, daß in den meisten afrikanischen Ländern Regierungen kaum mehr sind als gewählte Autokratien und das Wort „Demokratie“ lediglich zur Verschleierung von Kleptokratien dient. (...) 62. „Der Ruhm der alten Seidenstraße“, so sagte Xi Jinping dem Publikum beim ersten Belt-and-Road-Gipfel im Mai 2017, „zeigt, daß geographische Streuung kein unüberwindbares Hindernis darstellt.“ Die Initiative, so beteuerte er, stehe „allen gleichgesinnten Freunden offen … sie schließt weder jemanden aus, noch zielt sie auf jemanden ab“. Die Regierungen zahlreicher Länder, darunter Äthiopien und Malaysia, sind begeistert. Brexit-Großbritannien ist ebenfalls interessiert. Als Reaktion auf die Ansprache des chinesischen Premiers sagte der britische Schatzkanzler Philip Hammond: „Diese Initiative ist vom Ausmaß ihrer Ambitionen her wahrhaft bahnbrechend und hat das Potential, den Lebensstandard von siebzig Prozent der Weltbevölkerung anzuheben.“ Wie er hinzufügte, sei Großbritannien „ein natürlicher Partner“ für diesen Plan. 63. „Es gibt Leute, die wollen, daß die Vergangenheit sich wiederholt, und sie sorgen entsprechend dafür, daß wir uns nicht an sie erinnern.“ Paul Krugman (...) 66. Einige von Chinas Werbespots für die Belt-and-Road-Initiative sind animierte Videos mit Figuren in verschiedensten ethnischen Kostümen; man sieht sich in verschiedenen Sprachen begrüßt, dann singen lächelnde Kinder: „Die Seidenstraße ist unsere Art, alles Gute zu teilen, die Zukunft steht vor der Tür, die Seidenstraße ist … eine Straße für mich, für dich, für alle!“ (...) 84. „Warum“, so schreibt Ngugi wa Thiong’o in seinem Roman Herr der Krähen, „läßt es das notleidende Afrika zu, daß sein Reichtum den Bedürfnissen derer dient, die außerhalb seiner Grenzen leben, und bettelt dann mit ausgestreckten Händen um einen Kredit aus ebendem Reichtum, den es weggegeben hat? Wie sind wir so tief gesunken, daß der beste Führer derjenige ist, der weiß, wie man um einen Anteil von etwas bettelt, das er bereits für den Preis eines zerbrochenen Werkzeugs weggegeben hat? Wo ist die Zukunft Afrikas?“ (...) 96. „Entschließen wir uns, Europa nicht zu imitieren. Spannen wir unsere Muskeln und Gehirne für einen neuen Kurs an. Versuchen wir, den totalen Menschen zu erfinden, den zum Siege zu führen Europa unfähig war.“ Frantz Fanon (...) Zeichenanzahl Exzerpt: 5.417 von 56.622 Zeichen Mehr von: Priya Basil Seitenzahl: Im Heft auf Seite 7 Aus dem Englischen von Bernhard Josef Heftpreis: 13,90 € inkl. MwSt. 7% Ich möchte Lettre abonnieren Zum Inhaltsverzeichnis HAMLET, MÜLLER & CO. – BRENNPUNKT THEATER Zur Spielzeiteröffnung 2017/2018 richten sich alle Scheinwerfer auf die Bühnenwelt: Essays, Gespräche, Erinnerungen, Polemiken, ein ABC der Bühnenbegriffe, Porträts und Liebeserklärungen. Wir lösen das Rätsel um Hamlet in der Mausefalle und erkennen: Jeder handelt als Schauspieler; wir setzen uns der Zumutung Oper aus, enträtseln Heiner Müllers Vermächtnis und entziffern das Serielle Bühnenbild. Wir verfluchen das Rampentheater, tasten uns durch die Bühne als Hospital, buchstabieren ein kleines ABC des Theaters und blicken zurück auf ein Schauspielerleben. 100 JAHRE RUSSISCHE REVOLUTION Das 100jährige „Jubiläum“ der Oktoberrevolution 1917 nehmen wir zum Anlaß, auf Glanz und Elend dieses Ereignisses zurückzublicken: Wir analysieren mit Alexander Solschenizyn das Rote Rad der Revolution, erkunden die Überlagerung der Zeiten und das Leben der Dinge; mit der russischen Avantgarde katapultieren wir uns ins All und werden kosmisch; und wir Warten auf Blücher, einen mysteriösen Marschall der Sowjetunion. Wir denken nach über die Beziehungen der Generationen, über Afrika als Grenze und als Objekt der Begierde und über Europas viele Heimaten. Wir erlernen das Genaue Hinschauen; wir schwimmen und träumen in Zeichenmeeren; Zarentochter Anastasia taucht auf aus den Tiefen der Zeit. Wir konfrontieren uns mit dem Atheismus der Philosophie und dem A-Atheismus. Bastian Schneider, ein Virtuose des literarischen Plagiats, ergreift als Intertextueller das Wort am letzten Rand der Klippe: Wir besuchen Künstlerateliers und machen uns vertraut mit den Werken von Luc Tuymans, Jean Siméon Chardin und Jannis Kounellis. Ein Neunauge in weißer Butter zergeht uns auf der Zunge; wir hören in Himmelreich und Höllensteig vom tragischen Verlöschen eines talentierten Achtundsechzigers und mit der Suezkrise von 1956 erklären wir die Demontage einer Weltmacht Wir beschäftigen uns mit dem Sieg der Militärs im Weißen Haus, betrachten mit Baudrillard und Buddenbrooks die Ereignisse um den Hamburger G20-Gipfel und erinnern an Juan Goytisolo. Kraftvolle Malerei und subtile Zeichnungen, künstlerische und historische Photographie wie auch ingeniöse Bühnenbilder machen das Heft zu einem ästhetischen Vergnügen. SCHWERE Vermächtnisse Die Berliner Afrika-Konferenz 1884-1885 war Auftakt zur Kolonisierung noch unaufgeteilter Regionen des Schwarzen Kontinents. Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Portugal reklamierten Land. Kolonisierung wurde als Zivilisierung legitimiert und der Bau von Infrastrukturen sollte Zeugnis der guten Absichten ablegen. 1896 begannen die Briten mit dem Bau der über tausend Kilometer langen Uganda Railway vom Indischen Ozean zum Victoriasee. Schwellen und Gleise der Eisenbahn bissen sich ins Buschland und mit dem Vortrieb der eisernen Rippen ins Landesinnere eignete man sich das Land um die Trassen herum an. Die Massai mußten ihre Enteignung zumeist ohnmächtig erleiden. Auf den Spuren der Vergangenheit folgt Priya Basil in einem kunstvollen Essay der Geschichte des Eisenbahnbaus, der Landnahme und der Besiedelung Britisch-Ostafrikas. Die Schienen selbst erinnern sich dabei an die Ereignisse. Heutzutage befördern chinesische Unternehmen den Bau von Häfen, Highways, Flughäfen, Bahntrassen in Afrika, und die Afrikaner stimmen zu, denn sie wollen auf eigenen Füßen stehen, sie wollen eine andere Zukunft für ihren Kontinent: Stahl, der die Erde beißt. Geboren werden heißt, einer Abstammungslinie anzugehören, einer Familie, einem Verwandtschaftssystem, einem System von Regeln und Verboten, welche in der Abfolge von Generation zu Generation weitergegeben werden, so wie symbolische oder materielle Güter, Traditionen, Wissen, Werte, Glaubensüberzeugungen. Die aufeinanderfolgenden Generationen sind sich wechselseitig verpflichtet und so tauschen sie Gaben und Anerkennungen aus. Heute jedoch hat die Verwandtschaft ihre soziale Funktion weitgehend verloren; der ökonomische Markt wird zur zentralen Instanz bei der Markierung von Altersgruppen. Der französische Philosoph Marcel Hénaff beschreibt traditionelle und zeitgenössische Generationenbeziehungen, neue Formen der Gemeinschaft und der Solidarität: Die Schuld der Zeit Europa kann niemals auf gleiche Weise Heimat für seine Bürger werden, wie es Nationalstaaten wie Schweden, Dänemark oder Italien sind, die sich als imaginierte Gemeinschaften aus ethnischen, kulturellen und sprachlichen Wurzeln herausgebildet haben. Eine Europäische Union, welche sich nach dem Vorbild des auf dem Staatsvolk basierenden Nationalstaats konstruieren würde, könnte nur zu einem abstoßenden Europäischen Superstaat mit einem eingebauten Konflikt zwischen nationalstaatlich organisierter Demokratie und Europäischer Entscheidungsfindung werden. Europa sollte nicht anstreben, Gemeinschaft zu werden, sondern eine Gesellschaft, die ihre soziale und kulturelle Diversität im Rahmen einer politischen Föderation entfalten sollte. Der schwedische Essayist Göran Rosenberg plädiert für Europas viele Heimaten. ZEICHENMEERE Mit dreißig Jahren verliebt sich Nicholas Shakespeare ins Angeln, in eine Tätigkeit, deren Ziel simpel ist: sich zu entwirren und dem Geist zu ermöglichen, fortgetragen zu werden, sich zu reinigen, um neue Verbindungen einzugehen. Über Schnüre, Lachsforellen und Fasanenschwanzfedern, über Trophäen, Puristen und Verzicht, über die Kunst des Sehens, das Staunen, Entdecken und Finden und über die Ähnlichkeiten zwischen Anglern und Autoren. „Der Angler wählt eine Fliege aus und seine Methode, die Angel auszuwerfen – die Art, wie die Wurfschnur zurückschnellt oder auch nicht – hat etwas mit einer Zeile Prosa gemein (...) Auf der Suche nach dem einen Fisch findet man einen anderen – und vielleicht findet man am Ende alles.“ Gut hinschauen! Gwenaëlle Aubry genügt der Himmel nicht. Ihre elementare und biographische Geographie teilt sich in Orte, an denen man tauchen kann und die anderen. Ein Wasserloch zieht sie jeder Wüste vor, signalisiert es doch Aufbruch. Die Welt der Wasser, die Kunst der Zwischenräume, Seen, Sturzbäche, Flüsse und Ströme, tote oder lebende Gewässer: sie alle stehen miteinander in Verbindung, dort braucht der Mensch nicht weiter zu gehen. Sein schwerer, abgenutzter Teil wird zurückgelassen, die Masken auch, Gleichgewicht ist nicht vonnöten: Schwimmen. Enrique Vila-Matas’ Held Bastian Schneider ist als Assistent eines Autors Lieferant literarischer Zitate. Er plündert Kafka und Gombrowicz, Dickens und den Talmud. Er verrät, wie Dichter bewußt und unbewußt auf andere Bücher und Konzepte zurückgreifen, diese aufnehmen, umformen, travestieren, ironisieren und mit ihnen spielen. Sein Lieblingsbuch war dereinst Hugo von Hofmannsthals Buch der Freunde, komponiert aus aphoristischen Freundesstimmen, doch Originalität konnte er dort nirgendwo entdecken. Also entschloß er sich, radikal unoriginell zu sein. Er macht sich alles zunutze, nimmt, was dienlich ist. Ist in der Kunst alles Kreislauf und Umschreibung seit Anbeginn der Zeiten? Bora Ćosić folgt in Ich, Anastasia den Spuren der legendären Zarentochter und stellt beunruhigende Übereinstimmungen fest. „Manchmal frage ich mich, ob es das mysteriöse Fräulein Anastasia in der kurzen Geschichte ihres Lebens direkt vor dem Massaker überhaupt gegeben hat, wie auch alles um sie herum und die ganze Geschichte, die passierte, bevor ich geboren wurde? Welche Art von Gewißheit gibt es in mir, an das zu glauben, was war; all die Photos, Filme und bedruckten Papiere sind nutzlos, ich muß auch nicht daran glauben, was gestern passiert ist (...) Ich bin möglicherweise nur eine Variante jener fragilen Prinzessin, die sie angeblich getötet haben, wenn auch nicht ganz, und die, ebenfalls angeblich, hier wie dort gesehen wurde. (...) So wie alle Menschen auf dieser Erde weilen und glauben, sie seien echte und normale Menschen, während sie nur symbolische Erscheinungen sind und reine Allegorien.“ Der Philosoph Jean-Luc Nancy hinterfragt Gottesglauben und Atheismus in der heutigen Welt. „Der Atheismus ist in dem Maße, in dem unsere – westliche/globale – Kultur sowohl in ihrer Struktur als auch in ihrem Verhalten durchgehend ohne wirklichen, aktiven, organisierenden und kollektiven Bezug zu einer Vorstellung des Göttlichen auskommt, die einzige Denkhaltung. In dieser modernen Haltung kommt aber nur ein Keim zur Reife, der seinem Wesen nach bereits in den Anfängen der abendländischen Wende der Welt angelegt war. Die bestimmendste Eigenschaft dieser Wende war nämlich das Entschwinden der Götter“. A-Atheismus Russische Revolution 1917 Nach der Oktoberrevolution überboten sich russische Denker, Schriftsteller und Künstler mit Ideen für einen radikalen Neubeginn. Visionen von kollektiver und individueller Befreiung, Utopien vom neuen Menschen brachten die Luft zum Brennen. Die Geschichte sollte einen neuen Anfang finden. Die „Biokosmisten“ oder „Immortalisten“ waren eine dieser Gruppen – mit Wurzeln im Anarchismus und Nietzscheanismus. „Wir fordern, daß das Recht auf Existenz (Unsterblichkeit, Auferstehung, Verjüngung) und die Freiheit, den Raum des Kosmos zu besiedeln, essentielles und reales Menschenrecht ist.“ Unsterblichkeit wurde zum höchsten Ziel der kommunistischen Gesellschaft der Zukunft; wahre Solidarität könne nur unter Unsterblichen herrschen, die kommunistische Gesellschaft müsse „interplanetar“ organisiert sein und das gesamte Universum regulieren. Boris Groys vergegenwärtigt tollkühne Visionen der russischen Avantgarde von der Besiedelung des Universums, von der Wiederauferstehung aller Verstorbenen, technologisch herstellbarer Unsterblichkeit, und einer kommunistischen Organisation des gesamten Universums. Kosmisch werden. Georges Nivat schildert das Entstehen von Alexander Solschenizyns 6.000 Seiten umfassenden Roman Das rote Rad. „Knoten für Knoten“ wollte der Autor die Geschichte der Russischen Revolution bis zum Oktober 1917 erzählen, doch brach er ab mit der Erzählung der Aprilereignisse 1917. Mit dem Scheitern der bürgerlichen Februarrevolution des Jahres waren alle Würfel zur bolschewistischen Machtergreifung bereits gefallen. Andersdenkende wurden ausgeschaltet, man schürte sozialen Haß. Der Freund Solschenizyns erzählt von der titanenhaften Arbeit an diesem (ins Deutsche nur teilweise übersetzten) Mammutwerk und von der Selbstverwandlung seines Autors dabei. Als Hitlers Panzer am 22. Juni 1941 über die Grenze der Sowjetunion vordrangen und die auf 2.000 Kilometern von der Ostsee zum Schwarzen Meer positionierten Truppen im Eiltempo nach Osten vorstießen, war das sowjetische Oberkommando in die Enge getrieben. Am 111. Tag der Wehrmachtsoffensive tobte die Schlacht um Moskau. Quellen in Schanghai, Rom und Ankara verkündeten, Stalin werde nun sein Trumpf-As ausspielen und Marschall Blücher an die Spitze der Roten Armee berufen: Warten auf Blücher. Wer war dieser legendäre, mysteriöse Blücher? Er hatte in China und Japan, in Sibirien und der äußeren Mongolei gekämpft und Siege für die Sowjetunion errungen und war zum Mythos geworden. Doch wartete man vergebens. Der Held der Sowjetunion war seit drei Jahren tot. Der Chef der sowjetischen Geheimdienste Lawrenti Beria hatte ihn als japanischen Spion verhaften lassen und zu Tode gefoltert. Eine Geheimgeschichte der Russischen Revolution von Philippe Videlier. Karl Schlögel, Intimus der russischen Revolutionsgeschichte, widmet sich erneut der Oktoberrevolution. Welches Narrativ könnte diese „Zeit der Wirren“ so darstellen, daß es Siegern und Opfern, Roten und Weißen, der inneren Macht und der Diaspora gleichermaßen gerecht würde? Wie verflechten sich Ereignisgeschichte und Strukturgeschichte? Nach der Machtergreifung muß sich die Revolution in vorrevolutionären Umgebungen zurechtfinden, Hinterlassenschaften der alten Ordnung: „Der Kampf zwischen alt und neu wird überall ausgetragen: in den Interieurs, der Mode, der Körpersprache, im Design, im Tanz, in der Welt der Düfte, der Welt der Töne. Es gilt, die Register historischer Wahrnehmung zu erweitern; neben der Dokumentensammlung brauchen wir ein Archiv der Akustik, ein Archiv der Gerüche, ein Archiv der Dinge ...“ Wissenschaftliche Rezepte für eine „Archäologie der Sowjetzivilisation“. BRENNPUNKT THEATER Über einer zerklüfteten, babylonischen Theaterlandschaft thront Katrin Brack. Die Bühnenbildnerin, 2017 für ihr Lebenswerk ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen in Venedig, spricht über das Singuläre ihres Verfahrens. Sie erklärt, warum sie zumeist nur mit einem Element – Regen, Nebel, Konfetti, Schnee – arbeitet, wie die von ihr erzeugten Atmosphären serielle Sequenzen aktivieren. Eingesetzte Mittel werden extrem reduziert verwendet, kommen aber massenhaft zum Zuge. Dadurch entstehen Räume ohne festgelegte Bedeutung, die zu sprechen beginnen, wenn Schauspieler sie betreten und szenisch Themen verhandeln. Die Semantik, die der Rezipient erzeugt, gilt für ihn allein: Das serielle Bühnenbild „Die Welt ist eine Bühne“ – diese Sentenz Shakespeares markierte ein ganzes Weltbild. Nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts bildete sich ein bittererer Denkrahmen auf den Theaterbühnen heraus, der den illusorischen „Seelenfrieden“ konformistischer Lösungen für tief beunruhigende Probleme verunmöglichen sollte: „Die Welt ist ein Krankenhaus.“ Krankenhaus und Irrenhaus verkörpern die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung der Gegenwart, deren Protagonisten rettungslos einer Vernebelung des Geistes, dem Unglück der Krankheiten, existentieller Vereinsamung ausgesetzt sind. Es gibt keinen Notausgang. Der französische Theaterkritiker Georges Banu analysiert dieses Leitmotiv bei Dramatikern und Regisseuren wie Jerzy Grotowski, Peter Weiss, Krzysztof Warlikowski, Dmitri Tschernjakow: Die Bühne als Hospital Nicht nur das Außen, auch der Form immanente Kräfte drängen zu immer radikaleren Operationen, wie Alexander Garcia Düttmann mit stupender Sachkenntnis an der Geschichte der Oper des 20. Jahrhunderts aufzeigt. Zu den ästhetischen Axiomen der Kunstform Oper zählt, daß musikalische wie dramatische Elemente ebenbürtig sind. Die Doppelung der ästhetischen Motoren konstituiert ein bipolares Spannungsfeld, das die einzelnen Bestandteile in die Extreme treibt, bis sie an jenen Punkt rühren, an dem Vergangenheit und Zukunft zusammenfließen. Es entstehen gefährliche Konstruktionen des Neuen, die für einen permanenten Ausnahmezustand sorgen, der die eigentliche politische Botschaft dieser Kunstform ist. Ihre Grundspannung animiert das Musiktheater zu immer neuen Wagnissen, die, wenn auch mit dem Massenbewußtsein kaum kompatibel, das Genre zu immer neuen, grenzüberschreitenden Abenteuern treiben: Zumutung Oper. Benjamin Korn huldigt jenen Zeiten, als das Literaturtheater eine Macht war und das Skript unantastbar. Das Wort eines Molière kam einem heiligen Text gleich. Unvorstellbar erschien den Gralshütern der Bühnenkunst eine Epoche, in der Texteingriffe und neue Technologien die Inszenierungen prägen würden, wie im ubiquitären Rampentheater. „Die Frontstellung zum Zuschauerraum zerstört die Binnenwirklichkeit der Bühne und macht jede seelische Beteiligung unmöglich, sie zerstört auch die aufklärerische Kraft des Theaters. Das „Erkenne Dich selbst“ des Theaters kommt beim Zuschauer nicht durch puren Verstandesvorgang zustande, sondern durch Erschütterung, „innere Reinigung“: Katharsis. „Was diese Erschütterung auslöst? Das stellvertretende Miterleben, das es uns erlaubt, an all den wunderbaren, finsteren und zwielichtigen Existenzen des Theaters zu partizipieren, mit ihnen zu töten, zu lieben, zu leiden und zu sterben, ohne uns selbst in physische Gefahr zu begeben, durch eine Geisterfahrt ins Innere jenes Dschungels, den wir die menschliche Seele nennen, um so, vorübergehend befreit von den kleinlichen Beweggründen, die unser Leben bestimmen, auf die Straße vor dem Theater hinauszutreten, tief durchzuatmen und den Sternenhimmel über uns zu spüren.“ Das Theater-Abc des Roberto Ciulli, Leiter des einzigartigen Modells des Theaters an der Ruhr, denkt die Begriffe der Bühne aus Ursprüngen, die weit hinter Aristoteles und dessen Tragödienlehre zurückreichen. Ciulli legt die Vertikale des Theaters frei, indem er das deutsche Wort Schauspieler, ein relativ junges Wort, suspendiert, weil es Zusammenhänge verstellt. Das italienische Attore oder englische Actor führen etymologisch auf die Spur des Handelns, wie es das Deutsche mit der Bezeichnung „Akt“ für eine verklammerte Szenenfolge wiedergibt. Wird der Schauspieler als der Handelnde begriffen, setzen Theorie und Praxis der Bühne neue Sinnzusammenhänge frei; und es erschließen sich unentdeckte Möglichkeiten des szenischen Spiels und unbetretene narrative Pfade. Ein archäologisches Lexikon der Bühnenbegriffe. Daß ein Beben mit unabsehbaren Ausläufern eingesetzt hatte, bekam auch Heiner Müller zu spüren, dessen Verse zunehmend ins Stocken gerieten, wenn er sich dem Theater mit Texten näherte. Während er seiner Schreibstörung grandiose Poeme abringt wie MOMMSENS BLOCK und Ajax zum Beispiel, in denen er den Ursachen für das Stocken der Versifikation auf den Grund zu gehen versucht, postuliert er zugleich einen subversiven Weg für das Theater: Der Weg ist nicht zu Ende, wenn das Ziel explodiert. In Müllers Vermächtnis analysiert Frank M. Raddatz, wie die Implosion der Geschichte als operatives Konzept neue Möglichkeiten für ein vertikales Theater der Zukunft eröffnet. Sattelnd auf einem prähistorischen Ritual, das Tote und Lebende versammelt, bündelt das Theater die geschichtlichen Streufelder, behauptet die Anwesenheit des Vergangenen jenseits linearer und chronologischer Ordnungen, und tritt mit dem Gewesenen in eine Kommunikation, die lange Verschüttetes freilegt und dadurch die Gegenwart verändert. „Vergangenheit ist Zukunft!“ lautet die Devise des Theaters der Vertikale. Thomas Ostermeier, Leiter der Berliner Schaubühne, nimmt den Eröffnungsvers aus Hamlet „Who’s there?“ / „Wer da?“ zum Ausgangspunkt seiner von Shakespeare durchdrungenen Reflexionen. Wer ist die Person, die mir gegenübersteht? Wer ist der oder das andere? Wer spricht uns an? Wer sind wir? Was ist der Mensch? Warum machen wir Theater? Was liegt hinter der Maske unserer physischen Erscheinung? Was liegt hinter einem Namen? Wer bin ich selbst? Wer sind wir? Spielen wir Rollen, um die Wahrheit herauszufinden? Hamlet in der Mausefalle Die Titelrolle soll er spielen: King Lear. Er hatte sie sich gewünscht, seit Jahren, und nun verläßt ihn der Gedanke nicht, daß er versagen könnte, ihm plötzlich die Worte fehlen, er schon den ersten Satz nicht herausbringt. Er besieht sich im Spiegel, kommt sich fremd vor mit dieser faltenhängenden Larve, den schmutzigen Bartstoppeln, den trüben grauen Augen im fahlen Gesicht, diesem Gebilde aus Altersrunzeln, Müdigkeit und gefrorener Melancholie. Ist er das? Lear, ja, so könnte er aussehen am Ende, aber ... Taumel. Ein Schauspielerleben. Eine Theaternovelle von Thomas Hodina. BILDER MACHEN Jurriaan Benschop spricht mit dem belgischen Künstler Luc Tuymans über Malerei und Politik. Dieser ist selbstkritisch und kritisch gegenüber der Welt, des Zivilisationsbruchs des Holocausts eingedenk und auf Bilder konzentriert, welche die Macht haben, Menschen für etwas zu mobilisieren. Als er in den neunziger Jahren mit bescheidenen Gemälden in Erscheinung trat, führte er eine neue Form von Authentizität in die Malerei ein, mit dem Phänomen des Scheiterns als Thema. „Vermag Kunst in der Gegenwart etwas zu bewirken? Wenn ein Journalist enthauptet wird, wenn die apokalyptischen Reiter des Islamischen Staats ihre Bildmacht demonstrieren? Wenn Männer abgeschlagene Köpfe herumfahren und in einem Rausch ihre Trophäen zeigen? Wenn die Barbarei vor der Tür steht, ist Kunst dann, im Sinne von Zivilisation, in der Lage, etwas zu bewirken oder ihr etwas entgegenzusetzen?“ Über Aktion, Engagement, Mißtrauen, Ohnmacht und den Verrat der Bilder. Ein flämischer Maler. Patricia Görg porträtiert einen Maler des 18. Jahrhunderts, der die Zeit zum Stillstand bringt mit Walderdbeeren, einer Handvoll Pflaumen, einem Fell des Hasens: Jean Siméon Chardin. „Die Komposition wirkt monumental-schlicht. Sie erteilt Unterricht im Sehen. Für all dies hat der Maler sehr lange gebraucht. Draußen tritt seine Epoche von einem Fuß auf den anderen, rauft sich vor Ungeduld die Perücke. (...) Menschen werden unter seinen Augen Versunkene, die unter der Wasserlinie der Zeit leben. Ihre Zielstrebigkeit zerfließt. Ihr Schwung pausiert. Sie werden ergriffen von Verlangsamung, wie der von Bewegungen unter Wasser. Chardin beobachtet einen Schankknecht oder eine Wäscherin auf dem Meeresboden ihres Tuns. (...) Chardin malt die Zeit selbst. Unauffällig nähert er sich diesem ungeheuren Sujet, indem er seine Modelle entführt in seine eigene Langsamkeit. Vom ersten bis zum letzten Pinselstrich muß er sie vor Augen haben.“ Langer Augenblick Eduard Winklhofer war Assistent von Jannis Kounellis und erinnert an den verstorbenen Künstler. „Kounellis war ein auffallend stiller, zurückhaltender Mensch. Strenge gegen sich und gegen sein Werk bestimmten sein Leben und Handeln. Während ein gieriges Diktat der Zeit stetig neue Moden als Kunst in die Welt wirft, um sie dann gnadenlos wieder zu verschlingen, widmete sich sein Schaffen der Überzeugung, Sinnvolles in der Vertiefung der Motive zu finden. Er war in der Lage, einen Untergrund tiefer Erinnerungen – eigener wie sozialer – aufzureißen und wahrhaft Modernes offenzulegen. So gelang es ihm, den Begehrlichkeiten einer Öffentlichkeit zu trotzen, die hinter vorgespiegelten Begriffen wie Aktualität und Authentizität dem Kreislauf schnellebiger Aushöhlung ausgeliefert ist. Er hat der Kunst den Freiraum bewahrt, der notwendig ist, um Großartiges zu schaffen.“ BRIEFE & KOMMENTARE Jean-Claude Pinson widmet sich in Neunauge in weißer Butter einem Ungeheuer aus Urzeiten, dessen schreckenerregender Anblick Gourmets nicht davon abhält, ihn als Delikatesse zu verehren: Der Lamprete. Diese auch am Loire-Ufer beheimatete Kreatur existierte bereits vor den Dinosauriern, war resistent gegenüber jedweder Art von Evolution und wurde – sagenumwoben – zur königlichen Trophäe, begehrten Beute, glanzvollen Sonntagsmahlzeit bei den Großeltern des kleinen Jean-Claude, der als Chorknabe zwischen Großvater Priester und Großmutter Köchin ihrer eigentümlichen Zubereitung beiwohnte und ihr Blut in einer Schüssel auffangen durfte. „Was mag in Anselm vorgegangen sein, als er zwei Tage vor Ostern im ersten Tageslicht auf dem höchsten Punkt der Teufels- oder Todesbrücke über dem dämmrigen Abgrund stand? Ein kühler Wind kam auf, ein verschreckter Vogel schrie vielleicht. Klare Luft, Bergluft; Heideggers Denkluft, seine Denkhütte. Der Brunnen mit dem Holzstern drauf; die sich im hohen Gras verlierenden Feldwege, Waldwasen, Knüppelpfade ...“ Michael Buselmeier über die Selbstauslöschung eines an seinem Idealismus gescheiterten Achtundsechzigers: „Anselm litt an seiner jahrelangen Einsamkeit hinter afrikanischen Campusmauern und Universitätszäunen wie an der ständigen Leisetreterei, ja Heuchelei, zu der ihn sein Amt nötigte. Er konnte zu keinem offen reden, wenigstens andeuten, was er wußte und dachte, was er befürchtete, und knirschte vor unterdrückter Wut mit den Zähnen. Er erregte sich über die schwarzen Staatsführer. Sie waren für ihn nichts als erbärmliche Betrüger, die seit Jahrzehnten die sogenannte Entwicklungshilfe für sich abzweigten und die Ölquellen für sich und ihre Clans ausbeuteten, immerzu lächelnde Gangster (...) und Tränen schossen ihm in die Augen (...) So setzte sich ohnmächtiger Zorn in ihm fest, der Haß fraß sich ein und mit ihm vielleicht auch die tückische Krankheit, die ihn nicht mehr verließ.“ Himmelreich, Höllensteig Als Präsident Trump seinen Amtseid schwor, hatten negative Trends dazu beigetragen, den US-amerikanischen Einfluß auf der Weltbühne einzuschränken. Eine schrumpfende Weltökonomie, eine Erosion der technischen Vorherrschaft, die Unfähigkeit, die eigene militärische Überlegenheit zur Erlangung politischer Ziele einzusetzen, unabhängigere politische Führungsgestalten in Europa, Asien und Lateinamerika wirkten dabei mit. Bislang trugen NATO oder ASEAN, Sicherheitsabkommen, Wissenschaftspotentiale oder eine Führungsrolle in der Klimapolitik zur Bekräftigung der amerikanischen Hegemonie bei. In wenigen Monaten hat die Regierung Trump diese Pfeiler ihrer Weltherrschaft bröckeln lassen. Der Geopolitiker Alfred W. McCoy zieht verblüffende Parallelen zwischen der desaströsen Suezkrise 1956, die Großbritannien seinen verbliebenen Weltmachtstatus kostete, und der heutigen internationalen Konstellation: Demontage einer Weltmacht KORRESPONDENZEN Tom Engelhardt beschreibt die Macht der Militärs in der US-Regierung. Reihenweise räumten Donald Trumps Berater ihre Stellung, freiwillig oder weil sie geschaßt wurden, mit Ausnahme der Generäle. Es sind ihrer drei: der Nationale Sicherheitsberater Lieutenant General H. R. McMaster, der Verteidigungsminister und General der Marineinfanterie a. D. James Mattis sowie der General des Marinecorps a. D. John Kelly, ehemals Minister für Innere Sicherheit, heute Stabschef im Weißen Haus. Sie stehen im Washington dieser Tage nahezu allein an der Spitze der Macht. Was ihnen weder in Bagdad, noch in Kabul, Tripolis oder im erweiterten Nahen Osten gelungen ist, in der Bundeshauptstadt haben sie es geschafft. Diese Feldherren aus Amerikas aussichtslosen Kriegen haben schwindelerregende Erfolge bei der Schlacht ums Budget, beim Gerangel um die Steuergelder der Nation erzielt. Was immer die Verfassung hinsichtlich der Kontrolle des Militärs durch Zivilisten besagt, im Augenblick kontrollieren in Washington die Generäle die Zivilisten und der tiefe Staat ist zum allzu sichtbaren Staat avanciert. Der Sieg ist unser, endlich! Carl von Siemens beobachtete die Auseinandersetzungen um den Hamburger G20-Gipfel. „Ein Simulakrum ist ein Zeichen, das auf keinen übergeordneten Sinn verweist. Existiert Gott, dann verweist das christliche Kreuz auf ihn. Existiert Gott nicht, bleibt das Zeichen ohne Inhalt; es hat als Symbol keinen Wert, sondern verweist lediglich auf sich selbst. Ein G20-Gipfel ist ein Simulakrum, insofern er dem gemeinsamen Auftritt der Darstellung von Verhandlungen an einem Tisch voller Fähnchen, dem Phototermin und der Abschlußerklärung eine Bedeutung zuweist, die ihm tatsächlich nicht zukommt. Sinn und Zweck des Gipfels sind daher weder Dialog noch Ergebnis, es ist die große symbolische Inszenierung des Status Quo für eine medial produzierte Weltöffentlichkeit (...) Das Umleiten der Aufmerksamkeit vom Gipfel zum Krawall stellt den verzweifelten Versuch dar, das Reale aus der Geiselhaft der Simulakren zu befreien; man sucht es im Stein und im Schlagstock, im Blut der Verletzten und dem aufgerissenen Boden der Schanze. (...) Im Zentrum der Krawalle steht der Körper, nach all den Trugbildern das einzige, was man kennt, das einzige, worauf man sich verlassen, das einzige, das man, anders als das Weltgeschehen, unmittelbar verbessern kann.“ Eduardo Subirats erinnert an den großen spanischen Schriftsteller Juan Goytisolo: „Das Schicksal eines jeden spanischen Intellektuellen ist das Exil gewesen. (...) In der Geschichte Spaniens hat man alles exiliert, was von einem zur absoluten Wahrheit erhobenen dogmatischen Prinzip abweicht: Ein einziger Gott, ein Gesetz, fixiert für alle Ewigkeit, ein totaler Glaube und eine totale Identität, ein unfehlbares Prinzip patriarchaler Autorität. Diese Exile schließen Reflexion, Kritik und den Willen zur Reform als pure Dissidenz aus. (...) Das Werk von Juan Goytisolo war eine kontinuierliche Konfrontation mit den intellektuellen Ausdrucksformen und dem politischen Willen der in Spanien vorherrschenden Intoleranz. Eine Konfrontation mit dem spanischen Nationalkatholizismus des 20. Jahrhunderts und seinen aufeinanderfolgenden Reklamierungen kristalliner unbefleckter Identitäten (...) Eine Opposition gegen das Gebräu aus Arroganz und Provinzialismus, welche die spanische Rechte ebenso wie die Linke bis zum heutigen Tage ausgezeichnet haben.“ Erinnerung und Exil KUNST Marina Roca Die Der Körper, unser Körper, ein Phänomen so fundamental wie grundlegend. Wir leben durch ihn, in ihm, mit ihm, manchmal gegen ihn. Ein Wahrnehmungsparadox: Ich bin nicht mein Körper, doch kann nicht ohne ihn existieren. Er ist das Gefäß, das alles enthält, was mein Ich ausmacht, doch überflutet dieses Ich die eigenen Grenzen. Der Körper erscheint verzerrt, vieldeutig, veränderbar. Er beginnt formlos, nimmt Struktur an, verleibt sich Charakteristika anderer Körper und Lebewesen ein. Farben und Formen bilden Strukturen von Körpern, die sich unkontrollierbar bewegen, aufgehalten nur von den Grenzen der Leinwand. Dies sind Elemente der Bildserie The Blush, die Innen- und Außenansicht, Lust und Scham verbinden. Wir wünschen Ihnen eine gute Lektüre, einen goldenen Herbst und hoffen, Sie bleiben uns gewogen! Mit den besten Grüßen, Lettre International Unsere Website www.lettre.de bietet Informationen zur Zeitschrift, unseren Kunsteditionen und eine Archiv-Suchfunktion. Abonnements können dort schnell und praktisch mit Paypal bezahlt werden. Literaturfest Berlin
Wie lässt sich die Demokratie neu beleben? Demokratie ist großartig, nur: Wie kann man sie schützen? Welche Strategien können die Welt vor Unfreiheit und Krieg bewahren? 16 herausragende Intellektuelle präsentierten in Berlin ihre Ideen - darunter Edward Snowden.
Die Demokratie ist vielerorts in die Defensive geraten. Die türkische Schriftstellerin Elif Shafak spricht vom anwachsenden "Team der Deprimierten" unter den Schriftstellern, Maaza Mengiste, die in den US lebende äthiopische Autorin, sieht statt der Revolutionen die militaristischen, autoritären Gegenbewegungen siegen, Arundhati Roy beklagt einen stillen Krieg gegen das eigene Volk im hindu-nationalistischen Indien. Auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin (ilb) sorgen sich Autoren und Denker aus vielen Ländern der Welt um den Zustand der Demokratie. Und sie scheinen sich in einem einig zu sein: Die Haltung der Selbstgenügsamkeit muss weichen! Ein Kongress mit historischen Vorbildern So ist zu erklären, weshalb am Abend des 8. September sechzehn herausragende Intellektuelle in Berlin zusammenkamen, um in einem fünfstündigen Mammutprogramm den Zustand der Demokratie und Strategien für die Zukunft zu analysieren. Die "Lange Nacht der Demokratie" bildete den Auftakt zu einem zweieinhalbtägigen Kongress über Demokratie und Freiheit im Rahmen des ilb. Ulrich Schreiber, der diese neue Veranstaltung als Festivalchef ins Programm gehoben hatte, beruft sich auf historisch bedeutungsvolle Vorläufer: den Internationalen Schriftstellerkongress für Kultur in Paris 1935, der sich gegen den aufkommenden Faschismus richtete, und das Russel-Tribunal 1966 in Stockholm. Die Grundüberzeugung, von der alle Vortragenden ausgingen: Freiheitliche Demokratie ist großartig, und es sich lohnt, um sie zu kämpfen. Es könnte allerdings sein, dass viele Zuhörer in den Großen Festsaal gekommen waren, um vor allem einen zu sehen, der diese Ansicht im eigenen Leben teuer bezahlt hatte. Edward Snowden wurde für mehr als eine halbe Stunde live aus Moskau zugeschaltet und von der deutsch-britischen Autorin Priya Basil befragt. Seitdem der Experte für Cybersicherheit vor vier Jahren enthüllte, dass die NSA Unterlagen zu Milliarden von Privatpersonen gesammelt hatte, lebt er als politischer Flüchtling im russischen Exil. Er wurde mit Preisen für Courage, Integrität und Dienst an der Öffentlichkeit ausgezeichnet und ist im Vorstand der Freedom of Press Foundation. In den USA liegt ein Haftbefehl gegen ihn vor. Der Whistleblower hatte genügend Anlass, sich über den Begriff der Freiheit Gedanken zu machen. Snowden: Grundvoraussetzung für Freiheit ist eine geschützte Privatsphäre Vor dem quasi anwendungsorientierten Konzept von Freiheit in unterschiedlichen Zusammenhängen - Redefreiheit, Meinungsfreiheit, Freiheit von Kriegen, die Freiheit, dass ungerecht durchsucht oder verhaftet wird, Schutz vor Deportation, vor der Regierung, vor anderen Bürgern, so zählt es Snowden auf - sieht er das Recht auf Privatsphäre als ein fundamentales Freiheitsgebot. Es geht ihm um nicht weniger als den Schutz des bedrohten Selbst. "Wir erkennen die Schönheit und die Kraft in der individuellen Wahrnehmung", führt Snowden aus. "Das, was wir im Kopf haben, was sich hinter unserem Gesicht verbirgt, was unsere Struktur ist, unser Knochenbau - egal, ob wir von einer Gemeinschaft oder von einem einzelnen sprechen - wir haben es mit einem Wesen zu tun. Das kann uns zu Gutem oder zu Schlechtem führen, aber es muss zu etwas führen. Und damit wir führen können, dürfen wir nicht geführt werden. Und ich glaube, das ist das, worum es bei Freiheit geht. Anerkennen, dass, wenn wir um Erlaubnis bitten, wenn wir reguliert werden - und Regelungen und Gesetze sind wichtig - wir doch dieses Selbst leben können. Diese inhärente Saat, die den Menschen zum Menschen macht. Und da muss etwas möglich sein, ohne dass man um Erlaubnis bittet. Man fragt nicht, man handelt. Das ist Freiheit." "Nutzt eure Freiheit, handelt, fragt nicht um Erlaubnis!" Doch wie schützt man diese Freiheit in Zeiten der rasch zunehmenden digitalen Kontrolle und Überwachung? Snowden, so erweckt er den Eindruck, ohne es explizit auszusprechen, arbeitet zusammen mit anderen an neuen Verschlüsselungstechniken. Eine Technologie, die es Nutzern möglich machen soll, online zu kommunizieren, ohne verfolgt werden zu können. "Ohne dass man sich mit Kenntnissen der Verschlüsselungstechnologie belasten müsste", so Snowden. Letzten Endes könne das Internet dazu beitragen, die Welt zu verbessern. "Wir durchleben eine Zeit der Gefahr", stellt er in Hinblick auf die USA unter Trump fest, und formuliert als Schlusswort einen flammenden Appell für eine bessere Zukunft: "Technologie allein kann uns nicht retten, es sind die Menschen, die uns retten müssen. Überzeugungen haben die Welt nie verändert, nur das Einstehen für Überzeugungen kann das. Steht auf und sagt etwas, nutzt eure Freiheit, handelt, fragt nicht um Erlaubnis!" 30 international writers, artists and students commemorate the 30 articles of the Universal Declaration of Human Rights http://www.literaturfestival.com Article 1: Nina Hoss - German Article 2: David Grossman - Hebrew Article 3: Ai Weiwei - Chinese Article 4: Patti Smith - English Article 5: Viktor Yerofeyev - Russian Article 6: Elnathan John - Hausa Article 7: Nils Landgren - Swedish Article 8: Petina Gappah - Sonah Article 9: Goce Smilevski - Macedonian Article 10: Herta Müller - Romanian Article 11: Eva Mattes - German Article 12: Elfriede Jelinek - German Article 13: Priya Basil - English Article 14: David Van Reybrouck - Dutch Article 15: Wolf Biermann - German Article 16: Samiullah Rasouli - Dari Article 17: Jeffrey Yang - English Article 18: Nora Giannori - Italien Article 19: Vivienne Westwood - English Article 20: Can Dündar - Turkish Article 21: Martina Gedeck - German Article 22: Haris Vlavianos - Greek Article 23: Pankaj Mishra - Hindi Article 24: Karla Park - German Article 25: Fadhil Al Azzawi -Arabic Article 26: Nabihah Iqbal - English Article 27: Simon Rattle - English Article 28: Lina Meruane - Spanish Article 29: Tom Wlaschiha - German Article 30: Raphaëlle Efoui Delplanque - French This is a project of the international literature festival berlin Berlin 8. - 10. September 2017 Haus der Berliner Festspiele International Congress for Democracy and Freedom Initiated and curated by Ulrich Schreiber (ilb) and Priya Basil (Authors for Peace) From September 8–10, 2017, alongside the international literature festival, a convention organised by the Peter-Weiss-Stiftung für Kunst und Politik e.V. (PWS) will bring together prominent international thinkers from various disciplines to reflect upon the challenges and opportunities faced by freedom and democracy today, and to engage in an open dialogue with the public. This congress is taking place in a spirit of resistance and is inspired, among others, by the 1935 International Congress of Writers in Defence of Culture, which was directed against the rise of fascism. The goal of the congress is to analyze recent political upheavals, revitalise the discourse on democracy, and exchange ideas and strategies for the future. Underscoring this endeavour is the conviction that liberal democracy is worth fighting for. Tickets for the congress are available here. Please select event type "Konferenz" to see the congress tickets. Occupy Democracy
by Priya Basil Imagine a building you can never see in its entirety – no matter how far back you go, no matter how high. Yet, you sense its shape – though only roughly since it’s always under construction. In fact, you forge it – even when you do nothing. This building doesn’t just grow, it can shrink. You may not notice any change, but eventually you feel it, the way you do the difference between light and dark as one slowly shifts into the other. The building has many inhabitants. Most will never meet and may have little in common, yet they nevertheless coexist in this uniquely fixed and flexible space. If you reside in such a building, it doesn’t just hold you – you embody it. Just over half the world’s 7.5 billion people currently live in some version of the construct called democracy. This does not include those variations that exist in name only, like Russia, which calls itself a “sovereign democracy”. It does however include the likes of Hungary, where Victor Orban proudly proclaimed the virtues of “illiberal democracy” – as if democracy were mere stucco to prettify any autocratic edifice. Regardless of the qualifications tacked to it, right now democracy itself risks becoming a mere facade. Even liberal democracy – until now the most convincing model – looks increasingly precarious. Indeed, the house of liberal democracy suddenly seems to be shaking at its very foundations. Small wonder then that all over the globe, in all kinds of systems and to differing degrees, so many of us feel anxious, cornered and with no real room for manoeuvre. The instinct is to retreat even further into our respective nooks, then either shout and curse from there, or hunker down and sit out a situation we appear to have little power to change. Yet, could it be that the democracy-house has partly fallen into disrepair because we have, for too long, kept too much to our own private little niches? Might we say that for many, especially in Western democracies, such retreat, such taking for granted, has been the very essence of freedom? Have we, unconsciously, come to conceive of a democrat as someone who can have rights without assuming responsibilities? What does it take to be a democrat? Can you be one part-time? Or must you live the role – daily, deliberately, actively? How much work does freedom require? If it really takes so much effort, is it still freedom? We need more places to test out such questions. Hannah Arendt wrote: “…no activity can become excellent if the world does not provide a proper space for its exercise.” So far, there isn’t much room - besides the voting booth – for us to practice democracy, to become accomplished democrats, connoisseurs in civil liberty. But sometimes spaces open up unexpectedly, temporarily. They beckon us out of our personal chambers and rearrange us in new constellations that can leave permanent marks. The 2017 International Congress for Freedom and Democracy is, hopefully, one such. It has been convened to survey our societies, politics and economics, and to re-conceive the very architecture of democracy. It is an invitation to the drawing board, the construction site, the interior design of the building called democracy, which has yet to be bettered and which is ours for the making. Wir brauchen einen Europäischen Feiertag - Für ein gemeinsames Europa!
Der Appell ist auf Erfolgskurs! Mehr als 10.000 Unterstützer/innen haben auf Change.org bislang die Petiton unterschrieben. Vielen Dank. Wir sammeln weiter. Unser nächstes Ziel: der 15.000-Stimmen-Meilenstein. Bitte unterschreiben auch Sie! _________________________________ Call for a European Public Holiday! Let’s foster a European Civil Society! The appeal is on the road to success! More than 10.000 supporters signed the petiton on Change.org so far. Thank you! We are still collecting signatures. Our next target: the 15.000-Milestone. Please join us! Writers@Berlin geht online 4. Juli 2017 Fremdsprachige Autoren sichtbar machen Mit einem großen Gartenfest feiert das Literarisches Colloquium Berlin morgen den Launch der neuen Rubrik Writers@Berlin: Diese wird um 16 Uhr auf www.literaturport.de online gehen. Writers@Berlin will die Vielfalt der fremdsprachigen Autoren und Übersetzer der Stadt kartographieren sowie ihre Persönlichkeiten und Schauplätze sichtbar machen. Viele jener Autoren und Übersetzer sind der Einladung des LCB gefolgt, sich mit einem biografischen Eintrag in das Lexikon einzuschreiben. Navigatoren durch das französische, russische, polnische, türkische oder lateinamerikanische Berlin bilden den Auftakt zu einer neuen Reihe von Literatouren durch die internationalen Szenen der Stadt. In neun Videos werden ganz unterschiedliche Persönlichkeiten der transnationalen Literaturen Berlins porträtiert, die auf dem Gartenfest zum ersten Mal gezeigt werden, u. a. Priya Basil, Zaza Burchuladze und Julia Kissina. Europäische Union: Warum hat Europa keinen Nationalfeiertag? Von der europäischen Union zur europäischen Nation: Der 14. Juli muss Festtag für alle werden! Von Benedikt Erenz 12. Juli 2017 Aus der ZEIT Nr. 29/2017 Als der Soziologe Ralf Dahrendorf einmal gefragt wurde, wie er die Zukunft der europäischen Demokratie einschätze, antwortete er mit einer Spur Bitterkeit in der Stimme: Europa sei keine Demokratie und werde auch nie eine sein. Aus einem ganz einfachen Grund: Es fehle ein Demos, ein europäisches Volk. Der Hamburger Dahrendorf (1929 bis 2009) hat lange in London gelehrt, und man mag seinen Sarkasmus für very British halten. Der Bruch des Königreichs mit der EU scheint ihn zu bestätigen. Die britische Autorin Priya Basil indes sieht das ganz anders. Geboren 1977 in London, aufgewachsen in Kenia, bringt Basil der Abschied Englands aus Brüssel schier zur Verzweiflung. Denn genau darum gehe es ja gerade, insistiert sie in einem furiosen Essay für die neue Ausgabe der Zeitschrift Lettre: die Union auszubauen und "einen europäischen Demos zu kultivieren". Ein Volk von Europa. Das bedeutet, den Weg zu finden von der europäischen Union zur europäischen Nation. Zu einer europäischen Identität, die sich nicht auf den üblichen Zirkel von kosmopolitischen Intellektuellen und Großfürsten des Big Business beschränkt, sondern die alle sozialen Milieus umspannt und gesellschaftliche Selbstverständlichkeit wird. Priya Basil wünscht sich dazu auch eine verschärfte Symbolpolitik. Warum zum Beispiel, so fragt sie, gibt es neben der europäischen Nationalhymne (nach Beethovens Neunter) keinen europäischen Nationalfeiertag, an dem alle freihaben und Europa hochleben lassen? Sie schlägt den 25. März vor, zur Erinnerung an den 25. März 1957, als die Römischen Verträge unterzeichnet wurden. Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 29/2017. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen. Hier aber müssen wir bei aller Sympathie für Basils Furor Einspruch erheben. Denn das gesuchte Datum gibt es längst. Es ist der Quatorze Juillet, der 14. Juli, da 1789 die Bastille fiel. Der Tag steht für den Triumph der Französischen Revolution. Er erinnert nicht nur an die Erstürmung des königlichen Pariser Staatskerkers, sondern mehr noch an die entscheidenden Wegmarken des Epochenjahrs: an den Ballhausschwur von Versailles, der dem Parlamentarismus den Weg bahnte, und vor allem an die Deklaration der universalen resp. globalen Menschen- und Bürgerrechte. Sie und nicht die Römischen Verträge sind die Gründungsurkunde des freien Europa. Und das keineswegs nur aus der Rückschau. Von Anfang an wurden sie so verstanden. Überall in Europa hörten die Bürger das Signal, auch jenseits des Kanals. In England kursierten die Schriften des großen Thomas Paine, die schon die Amerikanische Revolution inspiriert hatten. Auch hier gab es Demokratenklubs wie überall von Dänemark bis Sizilien. In Ungarn, das heute unter neuem Autoritarismus leidet, zündete der Freiheitsfunken genauso wie im neuerdings klerikalfaschistisch bedrückten Polen: Tadeusz Kościuszko, Polens Held der Helden, wollte nicht bloß ein unabhängiges, sondern ein freies Land. Er wurde Ehrenbürger der Französischen Republik – was damals nichts anderes hieß als Ehrenbürger Europas (auch diese Idee ist etwas älter, als Jean-Claude Juncker vielleicht meint). Der 14. Juli blieb das ganze beklemmende monarchistische, nationalistische, faschistische, staatskommunistische 19. und 20. Jahrhundert hindurch das Schlüsseldatum für alle, die, wie Victor Hugo, Giuseppe Garibaldi, Georg Herwegh, an die "Vereinigten Staaten von Europa" glaubten, an die "Europäische Republik". Schon 1790 war der Tag in Paris gefeiert worden. Im selben Jahr auch beim Freiheitsfest in Hamburg, der ersten – wir wollen der Pfalz das Hambacher Fest nicht streitig machen! – politischen Bürgerkundgebung Deutschlands. Nun mögen die Franzosen den Quatorze Juillet weiterhin auf ihre liebenswert antiquierte Weise begehen, mit Tschingderassabum auf den Champs-Élysées. Europa aber sollte einschlagen und einen neuen, seinen Nationalfeiertag daraus machen. Im Übrigen: Ein freier Arbeitstag für alle – wollen doch mal sehen, ob es wirklich keinen europäischen Demos gibt! |
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