Die ganze Welt
ist eine Bühne
Ein Essay über das Theater und seine politische Kraft
23.05.2017
Von: Priya Basil
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Meine Schwester wandte sich vom Auto ab und mir zu, ihre Augen erfüllt mit einer Mischung aus Verwirrung und Mitleid. Sie sagte kein Wort, aber das brauchte sie auch nicht – ihr Blick sagte alles: „Jetzt mach nicht so ein Drama.“
Das Englische ist – wie das Deutsche – voller Redewendungen, die die Theatralität der banalsten Alltagsdinge andeuten: „Eine Maske aufsetzen. Eine Szene machen. Den Schein wahren.“ In der Sprache spiegelt sich die Tatsache, dass Leben auch Agieren heißt, und zwar in jedem Sinn des Wortes. Man spielt viele Rollen – einige davon fallen einem ganz leicht, andere erfordern eine bewusste Darbietung oder sogar Verstellung. Ob zu Hause oder bei der Arbeit, mit Freunden oder Geliebten, allein oder in der Öffentlichkeit: Man verändert sich, verschiedene Teile der eigenen Persönlichkeit verblassen oder drängen sich in den Vordergrund. Mit der Zeit gleichen sich die vielen Versionen des Selbst immer weiter an – oder zumindest sollte es so sein, denke ich, je selbstsicherer man wird. Und trotzdem habe ich, unabhängig vom Kontext, oft das Gefühl, dass ich das Dasein immer noch probe, dass ich immer noch das Stichwort verpasse, mich immer noch in meinem Text verheddere. Doch vielleicht gehört auch das zur Rolle und wird auch weiterhin dazugehören, solange „ich die Wahrheit nicht spreche, wie ich möchte, sondern soweit ich es wage”, obwohl ich, wie Michel de Montaigne, „etwas mehr wage, je älter ich werde”.
Meine „Schauspielkarriere” begann schon früh, als ich – ich war sechs oder sieben – es mir zur Aufgabe machte, dafür zu sorgen, dass meine Mutter, mein Vater, meine Schwester und ich wie eine vollkommen glückliche Familie wirkten. Nicht dass es offensichtliche äußerliche Anzeichen gegeben hätte, das dem nicht so war, aber die regelmäßigen Auseinandersetzungen meiner Eltern, die in langes Schweigen meiner Mutter und kurze Abwesenheiten meines Vaters mündeten, untermauerten in unserer kleinen Truppe das Bedürfnis nach Sicherheit. Ich wurde extra vergnügt und gesellig, als könnte mein Geplapper beim Abendessen ihre simmernde Traurigkeit und ihren Ärger übermalen. Als wir durch das Sarit Centre liefen, damals die einzige Mall in ganz Nairobi, in der Familien am Wochenende auf und ab spazierten und ihre Zusammengehörigkeit durch den gemeinsamen Verzehr von frischen Chips und Zuckerrohrsaft unter Beweis stellten, nahm ich erst meinen Vater und dann meine Mutter bei der Hand. So hing ich an beiden, lächelte und sagte mir, dass wir bis in alle Ewigkeit zusammenblieben. Im Auto war es schwerer, die Entfremdung zwischen ihnen zu ignorieren, Trübsal erfüllte den Citroën, noch erdrückender als der muffige Geruch, der aus der Rückbank aufstieg, seitdem der Wagen eine Nacht lang mit offenem Fenster im strömenden Regen draußen gestanden hatte. Manches Mal konnte noch so viel Gesang und Witzelei die Stimmung in diesem stickigen Raum nicht aufhellen. Meine Schwester gab auf und begann zu lesen oder starrte hinaus auf die vorüberziehende Welt. Ich hasste es, aus dem Fenster zu sehen, denn ich war überzeugt, dass jemand, der im Vorübergehen oder –fahren zu uns hineinblickte, unser Elend erkennen und es damit wahr werden lassen würde. Ich tat also so, als könnte es mir gar nicht besser gehen: Ich täuschte Unterhaltungen vor, wedelte mit den Händen, warf den Kopf zurück und lachte gekünstelt und lautlos vor mich hin. Sobald das Auto an einer Ampel anhielt, wurden diese Anstrengungen noch lebhafter. Meine Schwester, die mich schon lange nicht mehr fragte, was ich da machte, sah gelegentlich mit steifem Gesicht zu mir herüber, in dem ihre unausgesprochene Bitte lag: „Jetzt mach nicht so ein Drama.“
Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender
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Die englische Originalfassung des Essays ist im Magazin zum 38. Theatertreffen der Jugend nachzulesen, das vom 2. bis 10. Juni 2017 im Haus der Berliner Festspiele stattfindet.