Manifest der Europäischen Schriftstellerkonferenz 2016
Europa ist ein Lebensstil. Die Geschichte Europas ist geprägt von Menschen, die das Abenteuer suchten und Wagnisse eingingen. Hier begegnen sich das Unmögliche und die Freiheit. Auf den Handflächen aber funkeln Sterne.
Zmicier Vishniou. Aus dem Belarussischen von Martina Jakobson
Denke ich an Europa, werde ich an die wohlbekannte Tatsache erinnert, dass, vom Weltraum aus gesehen, auf unserem Kontinent keine sichtbaren Staatsgrenzen erkennbar sind; keine gewaltigen Linien, die sich durch die Landschaft ziehen, über Hochebenen, Hügel und Seen. Seine vielfältigen Landstriche – abgetrennt durch natürliche Grenzen wie Küsten, Flüsse, Felsspalten, Steppen und Berge, Landzungen und Inseln, den Grund des Meeres und seine Oberfläche – all das sind einfach Orte, an denen sich die Menschen über Jahrhunderte hindurch versammelt haben, um für einen kurzen Moment den immer wieder neuen Gesang der Menschheit erklingen zu lassen.
Sjón. Aus dem Isländischen von Betty Wahl
Europa ist das Dorf nebenan. Die Tür des Nachbarn. Die nächste Insel.
Europa geht bergab, und am Ende ist immer das Meer.
Europa ist ein Café, in dem man alle Sprachen spricht und jeder sie versteht.
Jordi Puntí. Aus dem Katalanischen von Michael Ebmeyer
Als Bürger eines zweisprachigen Landes werde ich häufig gefragt, was ich meinem Gefühl nach bin: ein flämischer Autor oder ein belgischer? Meist antworte ich, dass ich mich als Schriftsteller in erster Linie als Europäer empfinde. Ich bin mit beiden Füßen in einer starken europäischen literarischen Tradition verwurzelt. Als Bürger bin ich Flame und Belgier und Europäer. Ein Individuum kann viele Personen beherbergen.
Ich schreibe dies am 22. März 2016. Anschläge in Zaventem und Brüssel haben unser Land bis in seine Grundfesten erschüttert. Wie beschützen wir unsere tolerante Gesellschaft gegen Intoleranz? In meinen Augen ist das die größte Herausforderung, vor der Europa steht.
Peter Terrin. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
Meine Heimat ist weder Indien noch Frankreich, sondern die französische Sprache. Ich bin befreit, ich bin frei, als Frau und als Autorin, weil ich schreibe, weil ich auf Französisch schreibe.
Shumona Sinha. Aus dem Französischen von Lena Müller
Europa ist ein Archipel voller Wortbrücken.
Doris Kareva. Aus dem Englischen von Antje Rávic Strubel
Die Europäische Union war ein Versprechen zur Solidarität, eine Koalition verschiedener Kulturen, die imstande sind, eine gemeinsame Sprache durch transparente demokratische Prozeduren zu finden, und sich dabei um das Wohl der eigenen Völker zu kümmern, um ihre soziale und natürliche Umwelt.
Europa ist heute infolge von Bürokratie, Ungleichheit, Vorurteilen und Angst sowie durch einen ganz konkreten Zaun geteilt, und seine einzige Chance besteht darin, den Kokon der lokalen Interessen und der Erpressung durch den Markt zu verlassen und zu dem nicht gehaltenen Versprechen zurückzukehren.
Ivana Sajko. Aus dem Kroatischen von Alida Bremer
Beginnt Europa (am Mittelmeer), oder endet es (vor dem Mittelmeer)?
Mehmet Yashin. Aus dem Türkischen von Tevfik Turan
Wo liegt die Mitte Europas? Wenn man Europa als eine vitruvianische Figur mit kanonisierten Proportionen wie die von Da Vinci betrachtet, wenn man die Karte von Europa als einen Menschen sieht, der dich anschaut, liegt die Mitte in der sicheren und gut geschützten Schengen-Zone. Aber das Herz schlägt wie bei jedem Menschen weiter links. Im Osten, irgendwo da, wo die Ukraine liegt.
Serhij Zhadan. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
Als Europäerin bin ich einmal Einwohnerin und siebenundzwanzigmal Ausländerin.
Antje Rávic Strubel
Das heutige Russland grenzt sich wieder von Westeuropa ab. Aber so, wie es mit der UdSSR geschehen ist, lässt sich diese neu errichtete Mauer aus Ignoranz und Hass niederreißen – mit einem Wort der Wahrheit.
Sergej Lebedew. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg
Europa ist für viele das Land der Träume, denn es steht für Menschlichkeit und Freiheit.
Jene Freiheit, für die viele Syrer gestorben sind – in Syrien und auch in Europa.
Was mich betrifft, so habe ich durch meine Existenz als Kriegsflüchtling in Europa die Erfahrung gemacht, dass sich die Humanität, die die Menschen hier an den Tag legen, von der Politik der Regierungen abhebt.
Für manch einen mag Europa großartig sein.
Mich dagegen begeistern nach wie vor Zauber und Geheimnis des Orients.
Kefah Ali Deeb. Aus dem Arabischen von Leila Chammaa
Ein Mensch kommt nach Europa.
Ein Mensch unterwegs. Die älteste Geschichte der Welt. Und die aktuellste. Eine Geschichte für alle Zeiten. Zahllose Fäden dieser Erzählung, über Jahrtausende miteinander verwoben und heute enger denn je verknüpft, haben Europa geschaffen.
Ein Mensch unterwegs, einer von Millionen. Einer von vielen, die ein Zuhause suchen und es nicht finden werden, weil Europa ihnen inzwischen den Einlass verwehrt. Ihr Zuhause hat anderswo zu sein, möglichst fern von Europa. So fern, wie Hilfe und Hindernisse sie halten können. Ihr Europa liegt außerhalb des Kontinents, in Zeltstädten und Internierungslagern oder tief unter den Wellen. Das ist ihr Europa. Das ist ihre Ode an die Freude.
Wird Beethovens Neunte zur Hymne der Missgunst werden? Oder wird Europa die Partitur mit prächtigen Beats der Weltmusik neu beleben?
Priya Basil. Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender
Ich bin mit der europäischen Literatur groß geworden, mit Robert Musil, Marcel Proust und anderen, und mein eigenes Schreiben hat sich in ihrem Licht entwickelt. In gewissem Sinn werden wir Israelis, ob wir wollen oder nicht, sei es in unserer Literatur oder in unserem Leben allgemein, immer mit einem Bein in Europa und mit dem anderen im Nahen Osten sein. Und manchmal wissen wir selbst nicht, wo genau wir uns gerade befinden.
Nir Baram. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Die europäische Dialektik:
Die Vernunft trennt, der Geist verbindet.
Lukas Bärfuss
Die Welt ist kompliziert, deshalb müssen wir der Versuchung widerstehen einfache Antworten zu liefern.
Jonas Lüscher
Europa erinnert mich an den Don Quijote der Renaissance. Seine hehren Ziele und Projekte befinden sich oft im Widerstreit mit der rauen Wirklichkeit und sogar mit den Naturgesetzen. Ein wunderbarer Protagonist für die Literatur und ein unerschöpflicher Stoff für einen Schriftsteller – für Europas Sancho Panza.
Eugenijus Ališanka. Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig
Die europäische Literatur kann nur dann vielfältig, reich und stark sein, wenn sie nicht bloß aus den sogenannten großen Sprachen/Literaturen besteht, sondern aus den literarischen Stimmen jeder einzelnen Autorin und jedes einzelnen Autors in Europa, den Stimmen der Minderheiten, der Migranten, der anderen und überhaupt auch aus dem Anderssein.
Lidija Dimkovska. Aus dem Makedonischen von Alexander Sitzmann
Deine Worte / meine Bilder / Deine Worte / mein Land / meine Heimat / Flagge / Deine Worte / die einzig mögliche Gesellschaftsordnung
Jana Beňová. Aus: „Abhauen“. Aus dem Slowakischen von Andrea Koch-Reynolds. © Residenz Verlag GmbH, Salzburg – Wien
DAS SCHLIMMSTE IST GRAUSAMKEIT
Joanna Bator. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
EUROPA IST …
Jene Gegend, wo wir den tödlichen Hass aufeinander nach Kräften zu vermeiden suchen und uns höchstens wechselseitige Abneigung gestatten.
Jene Gegend, wo wir der tödlichen Furcht vor einander zu widerstehen suchen.
Jene Gegend, wo momentan schwer zu entscheiden ist, ob obige Sätze tödlichen Zynismus oder stillen Optimismus ausdrücken.
György Dragomán. Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer
Auch Ehrlichkeit gehört zu den zentralen Werten Europas. Ehrlichkeit, die kalte Herzen, hohle Versprechen, schnöden Hass und zynische Gleichgültigkeit in unseren Seelen aufzeigt.
Tilman Spengler
Das Fehlen von Empathie ist das Gleiche, wie an der Peripherie stecken geblieben zu sein. Es ist das Gleiche, wie auf der falschen Seite des Stacheldrahtes zu stehen.
Dragana Mladenović. Aus dem Serbischen von Jelena Dabić
TRÄUME VON EUROPA
Dort ist eine andere Welt. Die Städte sind endlos und die Gebäude haben Hunderte von Stockwerken. Menschen fahren in schönen Autos und haben tolle Häuser. Alle arbeiten und führen ein gutes Leben, aber auch die Arbeitslosen leben gut. Wenn du kein Geld hast, gehst du zur Bank und stellst einen Antrag, und du bekommst es, ohne es zurückzahlen zu müssen. Die Mädchen sind lieb und sie weisen dich nicht zurück. Ihre Läden nennen sie „Supermarkt”, weil es dort super Lebensmittel gibt. Der Honig ist dort süßer als bei uns und sogar der Schnee in den Bergen schmeckt wie Fruchteis. Ihre Hunde beißen dich nicht und ihre Mücken stechen dich nicht, sondern lecken dich nur ab. Ihre Haustüren lassen sie Tag und Nacht offen, niemand klaut, weil alle alles haben. Dort legen nicht nur Hühner, sondern auch Hähne Eier. Es ist dort wie in einem schönen Traum, der nie zu Ende geht…
Jeton Neziraj. Aus: „Peer Gynt aus dem Kosovo“. Aus dem Albanischen von Zuzana Finger. Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlag, Theater & Medien, Frankfurt am Main
Es heißt, Europa sei eine Wertegemeinschaft. Aber Werte sollte man innerhalb der Gemeinschaft verteidigen und nicht an ihren Grenzen.
Nicol Ljubić
Gefragt wäre nun die internationale Solidarität der EU-Bürger. Aber gibt es die überhaupt? Wo steht heute das stolze europäische Bürgertum und verteidigt das, was es 300 Jahre lang, über viele Rückschläge hinweg, beharrlich aufgebaut hat?
Josef Haslinger
Wenn wir die Faschisten aus Europa abschieben, dann gibt es viel mehr Platz für Flüchtlinge.
Jazra Khaleed. Aus dem Griechischen von Ina Kutulas
1. Vor dem Ersten Weltkrieg war Deutschland der dominierende Staat in Europa. Nach dem Zweiten Weltkrieg schufen die dominierenden Staaten Europas die Europäische Union, um aus unserem Kontinent eine Heimat des Friedens und der Stabilität zu machen. Heute dominiert Deutschland Europa. Es werden Gespräche geführt und es ist viel Geld vorhanden… aber wo bleiben die Entscheidungen?
2. Wenn sich das Geld auf der Welt frei bewegen darf, sollte das gleiche Recht auch für Menschen und Tiere gelten.
Rosa Liksom. Aus dem Finnischen von Stefan Moster
Europa hat allein in den letzten 100 Jahren so viel Geschichte gesammelt. Und Ihr, die Fliehenden, die Ihr hinter den Grenzen wartet, auf den Meeren irrt, an Stacheldrähten aufgehalten werdet, erzählt diese Geschichte weiter. Auf Eure stumme Art. Ihr seid Geschichtenerzähler ohne Stimme. Doch wir hören Euch. Wir hören Euch.
Mely Kiyak
Mit Kunst und Kultur trotzen wir den Widrigkeiten und bauen Brücken zwischen den Völkern. Dies ist eine Verantwortung, die Künstler und Politiker in Europa und Umgebung teilen. Kunst kann nur dann zur Entfaltung gelangen, Wirkungskraft entwickeln und Menschen bewegen, wenn Ausdrucks- und Bewegungsfreiheit garantiert sind, finanzielle Förderung gegeben ist und dem Ressort der Kultur in den künftigen europäischen Programmen ein wichtiger Stellenwert zugesprochen wird.
Als teilnehmende Schriftstellerin dieser Konferenz betrachte ich es als meine Pflicht, mich für die Literatur und die Kunst im Allgemeinen einzusetzen. Indem ich – aus der Außen- wie auch Innenwelt schöpfend und fernab von aufgezwungenen Festlegungen auf Zeit, Ort, Kategorie und Schema – unbeirrt weiterschreibe. Unbeirrt meinen Stift gegen jede Art von Gewalt, Unterdrückung und Ignoranz erhebe.
Zu schreiben begann ich als Kind im Garten meiner Mutter. Mittlerweile schreibe ich an anderen Orten. An Orten, die ich liebe und die mich lieben. Orten, an denen ich neue Leser gefunden habe und neue Lebenserfahrungen mache.
Najet Adouani. Aus dem Arabischen von Leila Chammaa
O Ära von Verhängnis und Verderben; bei Walnuss, Pferd und Märchen, der Mensch ist so groß wie sein Kummer.
Yavuz Ekinci. Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
Schon als Junge habe ich mich ebenso sehr als Europäer gefühlt wie als Italiener. Indem ich das schreibe, wird mir klar, dass das inopportun klingen könnte. Das ist es nicht für mich.
Ich erinnere mich noch an die Autoschlangen an der italienisch-französischen Grenze und nichts lässt mich wünschen, sie wiederzusehen. Deshalb schmerzt und erschreckt es mich, wenn ich von Schritten zurück reden höre, von Abschottung und Grenzschließungen.
Zu früher zurückzukehren wäre für mich, wie auf eine Hälfte meiner Zugehörigkeit zu verzichten.
Paolo Giordano. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
Du standest in der Küche deiner Mutter und hattest einige Tassen abgewaschen, als du sagtest: Alles, was ich sagen werde, hat jemand anders schon gesagt. Gib mir den Topf.
Im Radio sprach Katarina Taikon, sie sagte: Ich habe die Menschenrechte nicht erfunden. Ich habe sie nur aus dem Romani übersetzt.
Lawen Mohtadi. Aus dem Schwedischen von Antje Rávic Strubel
Was ich mir so wünsche? Mehr Stammtisch für Europa. Um zusammen Bier zu trinken und zu reden.
Jaroslav Rudiš